Klassiker

Ein SM offen für alles

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Ziemlich schräge Freunde: Der vermutlich ungewöhnlichste Citroën SM der Welt stammt aus derselben Sammlung wie der schnellste dieser Spezies.

Der schnellste Citroën SM der Welt kennen Sie aus OCTANE 61. Jetzt lernen Sie den wohl individuells- ten seiner Art kennen. Und der entstand so: Es begab sich 1971, dass SM-Designer Robert Opron die Karosseriefirma Heuliez besuchte. Er traf sich dort mit einem gewissen Yves Dubernard, einem neuen Mitarbeiter, der ein besonderes Projekt übernehmen sollte – den SM Espace.

Heuliez wurde 1920 gegründet und hatte seinen Sitz in Cerizay, etwas nördlich von La Rochelle im Westen Frankreichs. Neben Omnibussen stellte das Unternehmen auch Aufbauten für Lkw und Transporter französischer Hersteller her, von den kleinen und längst vergessenen Marken bis hin zu den großen und etablierten. Ende der 1950er-Jahre begann Heuliez mit der Konstruktion und Entwicklung von Prototypen und produzierte Kombis und Cabriolets in Kleinserien. Die Zusammenarbeit mit Citroën dauerte da schon viele Jahre an und brachte unter anderem einige Sonderausführungen des legendären Transporters H hervor.

1970 aber zählte etwas anderes: Der brandneue SM hatte viel Aufmerksamkeit erregt und bot sich als prestigeträchtige Basis für ein Projekt an, das Heuliez viel Publicity und neue Aufträge verschaffen sollte. Der dafür auserkorene Dubernard war Autodidakt, hatte aber einige Zeit an den Hochschulen der Künste in Lille und Besançon studiert.

Auf den ersten Blick ein normaler SM – auf den zweiten Blick ein sehr ausgefallenes Einzelstück.

»Letztere hatte gerade einen dreijährigen Studiengang für Industrieästhetik ins Leben gerufen. Den brach ich aber ab und stellte mich stattdessen mit einer dicken Mappe voller Autozeichnungen im Studienzentrum von Peugeot in La Garenne-Colombes vor«, erzählt Dubernard. »1965 stellten sie mich ein, 1969 wechselte ich in das Simca-Zentrum in Poissy, das jedoch 1971 geschlossen wurde. Daraufhin bot ich Heuliez meine Dienste an. Und das Projekt Espace nahm gleich an meinem ers- ten Tag beim Mittagessen mit Robert Opron Gestalt an.«

Im Gespräch der beiden entwickelte sich die Idee von zwei Dachöffnungen aus ineinandergreifenden Lamellenpaketen. Das Designbüro von Heuliez erstellte zügig ein Modell, das den Namen Espace erhielt, eine Anspielung auf den Wettlauf der Supermächte im Weltraum. Auf dem Pariser Salon 1971 präsentierte das Unternehmen diesen »Espace«. Mit dem besagten Lamellendach, vergitterter Heckscheibe über dem Gepäckraum, Radkappen aus poliertem Aluminium und den rechteckigen verchromten Auspuffendrohren war er ein echter Hingucker. Die auberginefarbene Lackierung und das zweifarbige Interieur in Butter- und Grüntönen mit kraterartigen Vertiefungen in den Sitzen machten ihn zur Glamour-Queen der Ausstellung.

Der Maserati-V6 und die hydropneumatische Federung unter der Haube – manche erinnert das an eine Schlangengrube.

Bei einem späteren Messeauftritt in Brüssel präsentierte sich das Interieur deutlich dezenter, denn das wilde Original hatten manche Betrachter als störend empfunden. Auch die hinteren Lüftungsschlitze waren verschwunden und die glänzenden Radkappen durch Serienteile ersetzt. Henri Heuliez, Enkel des Firmengründers Adolphe, ließ diesen Espace in »Bleu Delta« – der Lieblings-SM-Farbe seiner Frau – umlackieren und behielt ihn. Einen weiteren Espace baute Heuliez für einen engen Freund des Hauses auf. Dieses Exemplar in einer Zweifarblackierung aus Schwarz und dem schneeweißen »Blanc Meije« steht heute in einer bedeutenden SM-Sammlung in Nordfrankreich. Es gibt Gerüchte über ein drittes Auto, doch dabei handelte es sich offenbar bloß um eine Rohkarosserie für die Erprobung des Dachmechanismus, die anschließend verschrottet wurde.

Heuliez bemühte sich, das Dachsystem in Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Italien, Belgien, Luxemburg, Holand, Japan und den USA patentieren zu lassen. Unser Fotomodell erlebte deshalb sogar ein echtes US-Abenteuer, denn es wurde dorthin verschifft, um Hersteller für eine Auftragsfertigung zu begeistern, wie sich Dubernard erinnert: »Der Espace wurde 1978 nach Chicago gebracht. Es gibt ein Foto, das ihn neben einem Boot zeigt, das Earl Moloney gehörte, einem Spezialisten für den Umbau von Cadillac und Lincoln zu Stretch-Limousinen. Ein Cadillac Eldorado wurde als Testträger für die USA tatsächlich mit dem Lamellendach ausgestattet.«

Kratersitze nennen sich die sänftenartigen Sitze, die aus einem Ufo stammen könnten.

Für Heuliez allerdings geriet der US-Abstecher nicht zu einem Eldorado. Eine Verkaufsbroschüre war schlecht übersetzt, und allein die verwirrende Zeichnung von Teilen für die Konstruktion des Lamellendachs genügte, um Detroits Ingenieure und Buchhalter in die Flucht zu schlagen. Das Team von Heuliez kehrte mit leeren Händen nach Hause zurück. Ohnehin stand Heuliez praktisch vor dem Aus, da der Bedarf an Karosserieschneidern immer mehr abnahm. Der Siegeszug der selbsttragenden Karosserien und strengere Crashvorschriften ließen wenig Raum für kreative Abenteuer. Mit dem Espace allerdings setzte Heuliez einen Trend, denn er gilt als Vorläufer vieler späterer T-Tops.

Was zumindest für Europa galt, wo dieses bislang unbekannte Konzept viel Aufmerksamkeit erregte. Der wirkliche Erfinder des T-Tops allerdings war, wie OCTANE-Autor Dave Kinney anmerkt, der amerikanische Designer Gordon Buehrig. Er präsentierte es erstmals 1948 mit dem Tasco, einem Einzelstück der American Sportscar Company, und ließ es auch patentieren. Dieses Patent war 20 Jahre später die Grundlage für Buehrigs Klage gegen GM, die das Konzept für die 1968er-Corvette kopierten. Mehr als eine geringe finanzielle Entschädigung brachte der Prozess ihm nicht ein. Die pragmatischen Amerikaner mochten jedenfalls die einfache T-Top-Lösung mit abnehmbaren Paneelen, wie sie zum Beispiel Burt Reynolds’ Pontiac Firebird in der Actionkomödie »Ein ausgekochtes Schlitzohr« (Originaltitel »Smokey and the Bandit«) populär machte.

Bei den europäischen Herstellern spielte die T-Top-Konfiguration dagegen kaum eine Rolle. Das italienische Fly Studio der früheren Ferrari-Renningenieure Giacomo Caliri und Luigi Marmiroli baute einen silbernen Ferrari 365 GT4 2+2 mit T-Top für den Modeunternehmer Etienne Aigner um – möglicherweise inspiriert von Fotos des SM Espace. Der kalifornische Maserati-Importeur stattet einen Khamsin mit einem T-Dach aus getöntem Glas aus und bot dem Werk das Konzept zur technischen Prüfung an. Als Maserati ihm jedoch mitteilte, er müsse das Einzelstück dafür nach Modena bringen, verwarf er den Plan und der offene Khamsin blieb genau das – ein Einzelstück. Der Toyota MR2 T-Bar machte die Dachkonstruktion in den 1990er-Jahren noch einmal weltweit populär, doch mit den 2002er-Versionen von Chevrolet Camaro und Pontiac Firebird erschienen die vorerst letzten T-Top-Serienmodelle.

Text Marc Sonnery // Fotos Dennis Noten // Bearbeitung Johannes Schnettler

Lesen Sie in OCTANE #67, wie aufwendig die Restaurierung des einzigartigen Lamellen-Mechanismus war. Und nicht nur die.

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