Klassiker

Roh-Diamant

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Dass Hersteller aus ihren Massenmodellen spezielle Homologationsversionen für den Motorsport ableiteten, war in den 1980er-Jahren nichts Besonderes. Dass sich ein braver Kleinstwagen in ein so radikales Biest verwandelte, schon.

Es gibt solche und solche Homologationsmodelle. Einige sind rohe, kaum gezähmte Versionen wilder Renn- oder Rallye-Autos, gerade eben zivilisiert genug für eine Straßenzulassung. Andere wiederum wirken wie aus einem Guss – so stimmig, als wäre der Motorsporteinsatz nur ein Vorwand für die Entwicklung eines außergewöhnlichen (Klein-)Serienautos. Der Renault 5 Turbo gehört eindeutig zu dieser zweiten Kategorie. Wer im plüschigen Innenraum auf den farbigen 70er-Jahre-Sitzen Platz nimmt, die filigranen Lenkstockhebel aus dem Basismodell sieht und das Science-Fiction-Lenkrad umfasst, der denkt an so manches – aber kaum an die 1000 Kurven der Rallye Korsika oder den Col de Turini. Müssen wir beim Turbo überhaupt über den Serien-5er sprechen? Nun, immerhin hat er den Motor beigesteuert. Der erste Renault 5 wurde von 1972 bis 1985 millionenfach gebaut, die zweite Generation »Supercinq« in einigen Ländern noch bis 1996.

Er war ein flippiger, fünfsitziger Kleinstwagen, aber mangels Power eher ein »Cold« statt »Hot Hatch«. Er war französisch und schrullig, was sich auch in Modellnamen wie »Le Car« für Nordamerika und »Go« in Japan niederschlug. Der »Kleine Freund« – so sein Marketinglabel in Deutschland – fügte sich nahtlos in die Renault-Ahnenreihe vom R4 bis zum Twingo ein. Ganz in der Tradition dieser kleinen Volksautos bot Renault eine verwirrende Vielfalt an Variationen an. Nicht zuletzt unter der Fronthaube, wo die Motorisierung bei 782 ccm begann und im Supercinq bei 1721 ccm endete. Hinzu kam das von der leichten Plattform und den wegweisenden Polyurethan-Stoßfängern ermöglichte geringe Gewicht zwischen 730 und 850 Kilogramm – fertig war ein äußerst gelungenes Stadtauto.

Nur ein Kleinwagen. Aber einer, der einen in die Sitze haut, wenn er über die Straßen fliegt.

Es gab natürlich auch schärfere Versionen, speziell den R5 Alpine und R5 Alpine Turbo, doch Renault dachte in größeren Dimensionen. »La Régie« wollte im Rallye-Sport in der Gruppe 4 reüssieren, die 1983 in die Gruppe B überging. Renault stand Mitte der 1970er-Jahre kurz davor, mit der Turbotechnologie in der Formel 1 eine Revolution auszulösen und Le Mans zu gewinnen – das sogenannte Projekt 822 sollte die zu erwartende Publicity in Verkäufe umsetzen. Jean Terramorsi, der Initiator des heißen 5ers, ver- starb kurz nach dem Projektstart, Gérard Larrousse übernahm.

Bertone – namentlich Marcello Gandini und Marc Deschamps, zwei Stars des Hauses – zeichnete für Karosserie und Interieur verantwortlich, Karosseriebauer Heuliez setzte die Ideen in die Realität um. Angeblich fuhr Larrousse bereits 1978 einen Prototyp, auf den Markt kam der straßen- und rallyetaugliche R5 Turbo erst zwei Jahre später. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits eine Menge Aufsehen erregt. Kein Wunder, wenn ein Massenhersteller sein beliebtestes Modell zum Rennwagen aufpeppt. Vielleicht war genau dieser erregende Gegensatz der Grund, warum der 5er überhaupt ausgewählt wurde.

Nur 1397 Kubik unter der Haube, aber 160 PS an den Rädern.

Augenfällig waren die fetten Verbreiterungen und die Umsiedlung des Antriebsstrangs, aber auch sonst hatte Renault an nichts gespart: Wo nicht ohnehin Aluminium zum Einsatz kam waren leichterer Stahl und Kunststoff verbaut, selbst die Fenster wurden verschlankt. Die Verdichtung des 1400er-Triebwerks senkten die Entwickler auf 7:1 und koppelten den Mittelmotor mit einem Getriebe des Typs 369 aus der Alpine A310.

Das Wettbewerbsdebüt endete mit einem Sensationssieg: Jean Ragnotti und Jean-Marc Andrié gewannen im Januar 1981 den Auftakt der Rallye-WM in Monte Carlo. Im Jahr darauf gelang Ragnotti auf Korsika ein weiterer WM-Sieg, als er Jean-Claude Andruet im Ferrari 308 GTB bezwang. In beiden Jahren blieben diese Siege jeweils die einzigen Podestplätze der Régie Renault. Ehrlich gesagt, konnten weder der R5 Turbo noch der Turbo 2 mit den schnellsten Gruppe-4- und Gruppe-B-Geräten mithalten. Ihre größten Erfolge feierten sie in den Showrooms. Für die Homologation in der Gruppe 4 der Rallye-Weltmeisterschaft musste Renault nur 400 Exemplare bauen, tatsächlich aber entstanden wegen der großen Nachfrage letztlich 1800 Stück zu einem Preis ab 44.600 Mark.

Nur der Turbo 1 besitzt das Science-Fiction-Interieur von Bertone.

Als 1983 der Turbo 2 erschien, war das ein völlig anderes Auto – sowohl auf der Straße als auch auf der Rallye-Piste. Genauso wie die zweite Seriengeneration die spielerische Unschuld und Einfachheit des Originals abgelegt hatte, stand der zweite Turbo jetzt für rohe Kraft und Robustheit. Das aus der Alpine-Version übernommene Interieur wirkte im Vergleich zu den abgefahrenen Bertone-Kreationen im Turbo 1 enttäuschend normal und die meisten Aluteile wurden durch Stahlblech ersetzt, was das Gewicht um etwa 70 Kilogramm erhöhte.

Der Besitzer unseres hier vorgestellten Autos stimmt dieser Einschätzung zu. Es stellt sich heraus, dass wir ihn schon einmal getroffen haben, denn wir haben seinen prächtigen Lamborghini Silhouette in OCTANE #48 vorgestellt. Richard Head, ein pensionierter Umwelt-, Gesundheits- und Sicherheitsmanager in der Ölindustrie, hat zuhause in Berkshire Garagenplätze für fünf Autos. Während seine BMW 3.0 CSL und M635 auf Rampen stehen und der Lamborghini sowie ein Monteverdi sich darunter einordnen, belegt der Renault eine Einzelgarage ganz für sich allein. Diese eklektische Sammlung entstand vor allem nach dem Muster »Auto in Goodwood sehen, recherchieren, auf eine bestimmte Version festlegen, kaufen«. Schon früh neigte Head zu einer eher eigentümlichen Fahrzeugwahl. In seiner Frühzeit als Sammler besaß er das klassische London-Taxi Austin FX4 und einen Fiat X1/9; sein erster Firmenwagen war ein Citroën BX …

Seine eigentliche Sammlerstory aber begann um die Jahrtausendwende, als er für fünf Jahre nach Kairo versetzt wurde. »Damals sagte ich mir, nach meiner Rückkehr kaufe ich mir einen Oldtimer«, erinnert er sich. »Ich las über den BMW M635, er gefiel mir sehr gut, also begann ich zu recherchieren. Mir war schnell klar, dass es ein Rechtslenker in Macao-Blau mit weißem Leder sein musste – eine Motorsport-Sonderedition, von der nur fünf Stück gebaut wurden.«

Text James Elliott // Bearbeitung Johannes Schnettler // Fotos Andrew Green

Lesen Sie in OCTANE #69, wo Richard Head auf den Turbo gestossen ist und warum er die Liebe zum Detail beim Franzosen so schätzt.

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