Text Martin Van Deer Zeeuw // Fotos Simon Clay
IN DER GESCHICHTE VON ASTON MARTIN IST DER FUTURISTISCHE ATOM EINS DER BEDEUTENDSTEN AUTOS – UND BESTIMMT EINE DER EIGENARTIGSTEN KONSTRUKTIONEN
Bei der gedrungenen Silhouette denkt man eher an ein unbekanntes Objekt als an einen Aston Martin: Der Atom überrascht und verwundert. Nicht nur rein äußerlich durch das Fehlen rechtwinkliger Formen. Der Motor stößt kräftige Töne aus, was so gar nicht zum Äußeren des Autos passen will. Aus dem Boden ragt ein langer Hebel, mit dem man zwischen Vorwärts- und Rückwärtsfahrt wählt, während das eigentliche Schalten von Gang zu Gang mittels eines kleineren Hebels an der verstellbaren Lenksäule erfolgt. Der erste Gang liegt rechts, der vierte links. Man könnte sagen: Alles anders machte der Atom.
Kaum zu glauben, dass das ein Aston Martin sein soll. Die Karosserie ist aerodynamisch geformt, aber ein Sportwagen? Der sieht anders aus. Bei der gedrungenen Silhouette denkt man eher an ein unbekanntes Objekt von einem entfernten Planeten. Eigenartig wirken die vielen dreieckigen Elemente, das Fehlen rechtwinkliger Formen.
Ganz besonders eigen – so der erste Eindruck, beim Anblick von vorn – ist der in die Karosserie integrierte Kühlergrill. Salopp ließe sich anmerken: Den Grill hat man sich gespart, stattdessen musste ein Dutzend Lehrlinge mit der Schlüsselfeile die Kühlluft-Schlitze im Pythagoras-Design in die Karosserie (immerhin aus Alu) knabbern. Zweimal zwölf Schlitze. Der Form des Dreiecks folgt auch die Motorhaube, bei genauerem Inspizieren entdeckt man noch weitere.
Als die Öffentlichkeit den Atom 1939 erstmals erblickte, sah kaum ein Auto so modern aus. Und dann noch die Typenbezeichnung! Fünf Jahre später sollte das Wort Atom eine schreckliche Bedeutung bekommen, aber 1939 war Kernphysik für eine kleine intellektuelle Elite faszinierend. Gordon Sutherland, seinerzeit Chef von Aston Martin, gehörte zu dieser Elite. Er hatte ein Gefühl für gesellschaftlichen Wandel. Ihn beschäftigten nicht nur Automobile, sondern auch deren Zukunft. Er war davon überzeugt, dass immer mehr Menschen viel längere Reisen unternehmen würden. Indizien für eine andere, mobile Zukunft waren aus seiner Sicht der Orient Express und der Siegeszug der Ju 52. Daher beschloss er, eine bequeme Limousine mit sportlichem Charakter auf den Markt zu bringen.
INDIZIEN FÜR EINE ANDERE, MOBILE ZUKUNFT WAREN AUS SEINER SICHT DER ORIENT-EXPRESS UND DER SIEGESZUG DER JU 52. DAHER FASSTE ER EINEN ENTSCHLUSS.
Die Arbeit am Prototypen begann 1939, benannt wurde er nach etwas unglaublich Kleinem, unglaublich Schnellem und unglaublich Leistungsfähigem. Klein. Ja. Es fällt einem nicht sofort auf, aber die hinteren Türen sind sehr schmal. Da wird das Ein- und Aussteigen aus dem Fond schnell zum Abenteuer. Die Grundidee des Wagens ging zurück auf Sutherlands Bewunderung für Modelle vom europäischen Festland. Er selbst hatte über die Jahre neunzig Autos besessen, viele aus Deutschland und Frankreich.
Deren Vorzüge wollte er in dem Prototypen zusammenführen. Die Aluminium-Karosserie ist an den vierkantigen Rohren des patentierten Kastenrahmens befestigt. Angetrieben wurde der Wagen zunächst von einem Vierzylindermotor mit 1950 ccm Hubraum, einer obenliegenden Nockenwelle und zwei Zenith-Vergasern. Die Kraftübertragung auf die Hinterachse besorgte ein Vierganggetriebe von Cotal.
BENANNT WURDE ER NACH ETWAS UNGLAUBLICH KLEINEM, UNGLAUBLICH SCHNELLEM UND UNGLAUBLICH LEISTUNGSFÄHIGEM.
Die Einzelradaufhängung vorn war wiederum Sutherlands eigenes Patent. Seine Begeisterung für die Luftfahrt ist im Innenraum spürbar. Das Emblem auf der Motorhaube – das auch als Haubenöffner fungiert – wurde in der Form eines Deltaflügels speziell für den Atom entworfen. Zwar war Sutherlands Kreation ein Einzelstück – das später als eins der ersten funktionsfähigen Konzeptautos bezeichnet wurde –, aber es war auch ein Versuchsfahrzeug, und als solches legte es während und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg um die 150.000 Kilometer zurück.
1941 nahm es an der Chessington Rally teil, einem von Unternehmern organisierten Rennen, das in einer für Rennsport flauen Zeit die Moral stärken sollte. Kriegsbedingt war an eine Serienfertigung des Fahrzeugs zwar nicht zu denken, doch der Presse präsentierte Sutherland den Atom voller Zuversicht. Man verstand.
AUF LANDSTRASSEN GIBT ER SICH AGIL UND WENDIG, AUF GERADEN ZIEHT ER WACKER VORAN
Der Motor stößt kräftige Töne aus, was so gar nicht zum Äußeren des Autos passen will. Aus dem Boden ragt ein langer Hebel, mit dem man zwischen Vorwärts- und Rückwärtsfahrt wählt, während das eigentliche Schalten von Gang zu Gang mittels eines kleineren Hebels an der verstellbaren Lenksäule erfolgt. Der erste Gang liegt rechts, der vierte links. Die 82 PS sind für ein Auto, das trotz Aluminiumhaut 1200 Kilogramm wiegt, alles andere als ausreichend. Um von 0 auf 100 Stundenkilometer zu kommen, braucht er 19 Sekunden. Trotzdem: Auf Landstraßen gibt er sich agil und wendig, auf Geraden zieht er wacker voran. Er ist kein GT im herkömmlichen Sinn, aber als Konzeptauto verdient er diese Bezeichnung allemal.
Egal, was man von dem Atom hält, Sutherlands Nachfolger David Brown – der Aston Martin 1946 übernahm – war überzeugt vom Potenzial dieses Wagens. Nachdem er ihn gefahren hatte, kaufte er die Firma. Aston Martin kam seit Kriegsende einfach nicht aus der finanziellen Krise heraus, also annoncierte Sutherland in der Times: »Zu verkaufen: kleine Sportwagenfirma. « Hier trat David Brown auf den Plan. Überrascht und erfreut darüber, um wen es sich bei der kleinen Firma handelt, besuchte Brown die Fabrik.
Gordon Sutherland machte eine Führung und händigte Brown dann die Schlüssel für den Atom aus. »Ich fand, dass das Auto eine sehr gute Straßenlage hatte«, sagte der später. Für das erste Modell, das unter David Browns Ägide entstand, übernahm er das Chassis und die Motorkonfiguration des Atom. Herauskam ein Rennwagen, der 1948 die 24 Stunden von Spa gewann und die Basis für den DB1 lieferte. 1948 wurde der Atom endgültig ad acta gelegt, 1949 verkauft. Die erste Hälfte der 1980er Jahre verbrachte der Atom dann in den Automobilmuseen von Le Mans und Châtellerault, bevor ihn sein jetziger Besitzer Tom Rollason im Juli 1985 nach England zurückbrachte. Er machte sich an die Restaurierung. Sie dauerte zehn Jahre.
UND SO MÖCHTE AUCH TOM ROLLASON, DER SICH EHER ALS SEIN BEHÜTER DENN ALS SEIN BESITZER BETRACHTET, DEM AUTO SEINE EXKLUSIVITÄT LASSEN
Eines steht fest: Dieser einmalige Wagen ist eines der bedeutendsten Autos in der Geschichte von Aston Martin. Seit der vollständigen Wiederherstellung 1995 hat der Atom mehrere Preise gewonnen, darunter den Concours d’Elegance in Schwetzingen 2002 und »Best in Show« bei der Classic Motor Show in Birmingham letztes Jahr. Doch der Atom hat sich den Blicken der Öffentlichkeit schon immer für mehrere Jahre am Stück entzogen. Und so möchte auch Tom Rollason, der sich eher als sein Behüter denn als sein Besitzer betrachtet, dem Auto seine Exklusivität lassen, dieses Flair des Außerirdischen. Deshalb werden wir ihn auch nicht bei jeder x-beliebigen Show zu sehen bekommen. Gut so!