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Klare Sache – der Panorama-Fiat

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Aus einem unscheinbaren Fiat 1100 kreierte Castagna 1950 dieses Cabriolet mit rahmenloser Panoramascheibe. Massimo Delbò erzählt, wie sich der Ausblick anfühlt.

Italien 1950. Das Land erholt sich vom Zweiten Weltkrieg. Die Menschen kratzen mit positiver Energie und Fantasie das Mögliche zusammen. Kaum jemand ahnt, dass diese Zeit den Grundstein für das italienische Wirtschaftswunder legt, das sich in den nächsten zehn Jahren entwickelt und das Land zu neuem Wohlstand führt. Und wohl noch weniger wagen es, von einem eigenen Auto zu träumen. Selbst die Oberschicht besaß keine ihrer prächtigen Vorkriegsautos mehr. Exklusive Fahrzeuge wie der Fiat 2.8 oder der Lancia Astura waren verschwunden und selbst der sechszylindrige Alfa Romeo 6C 2500 – das einzige nach dem Krieg wieder aufgelegte Luxusmodell – wurde bald durch den kleinen Vierzylinder Alfa 1900 ersetzt.

Im selben Jahr brachte Fiat sein neues Flaggschiff auf den Markt. Der 1400 war gefühlt nur halb so groß wie sein Vorgänger. Die Mittelklasse bedienten die Turiner mit dem seit 1937 gebauten 1100, der nach einigen Evolutionen 1949 in der Version E beziehungsweise EL erschien – mit neuer Front, aber nach wie vor separatem Chassis und dem altbekannten 1089-ccm-Vierzylinder. Der legte dank eines neuen Vergasers immerhin etwas an Leistung zu. Wichtigste technische Neuerung war die hydraulische Bremsanlage. 

Nur die Spiegelung verrät die rahmenlose Scheibe – Durchblick total.

Eine Zeitenwende erlebten nach dem Krieg auch die unabhängigen Karosseriebauer. Sie mussten sich neu erfinden. Zum Beispiel, indem sie statt kostspieliger Unikate nun attraktive Cabriolets oder Coupés in Kleinserien anfertigten. Pinin Farina und Bertone gelang das sehr erfolgreich. Andere wie Stabilimenti Farina und Carrozzeria Castagna schafften den Absprung nicht und sollten bald in Vergessenheit geraten. Farina schloss 1953, Castagna folgte 1954.

Die Ursprünge der Carrozzeria Castagna reichen bis vor Beginn des Automobils zurück, denn schon 1849 startet Paolo Mainetti in Mailand mit dem Kutschenbau. Zu Mainettis Belegschaft gehörte der neunjährige Carlo Castagna, der als Lehrling begann und dank seiner immensen Begabung bis in die Geschäftsleitung aufstieg. Er war an der Fusion von Mainetti & Orseniga mit der Carrozzeria Ferrari in den 1890er-Jahre beteiligt und erwarb 1894 das gesamte Unternehmen.

Der transparente Lenkradkranz veredelt den ohnehin spektakulären Blick aus dem Vistotal.

Die Kutschen der Carrozzeria Carlo Castagna & Co. standen für Luxus und Handwerkskunst. Zur erlesenen Kundschaft zählten wohlhabende Dynastien und königliche Familien aus ganz Europa, darunter Königin Margherita von Italien und der Dichter Gabriele d’Annunzio.

Mailand öffnete sich als erste italienische Stadt dem Automobil. Folgerichtig wandten sich Automobilhersteller und -importeure an die dortigen Karosseriebauer. Castagna beispielsweise belieferte ab 1914 das Militär und wuchs beträchtlich. In den 1920er- und 1930er-Jahren stellte Castagna als erste Carrozzeria von Holz auf Metall um. Mit Carlos Sohn Ercole als neuem Chef etablierte sich das Unternehmen als erste Wahl für raffinierte Karosserien auf Fahrgestellen von Isotta Fraschini, Alfa Romeo, Lancia, Mercedes-Benz und Duesenberg. Wer Castagna wählte, zeigte, dass Geld keine Rolle spielte.

Der kleine 1100er leistet nur 35 PS, das reicht so eben für etwas mehr als 100 km/h.

Dann kam der Zweite Weltkrieg. Mailand wurde schwer bombardiert, Castagna verlor Lager, Werkzeuge und Material. Ungebrochen blieb nur der Wille von Ercoles Söhnen Carlo, Cipriano und Savino. Sie bauten das Unternehmen wieder auf und verlegten es nach Venegono Superiore in der Nähe von Varese. Hier stellten die Castagnas ihr letztes Konzeptfahrzeug vor: Der »Vistotal« (nach dem italienischen »vista« für Aussicht) besaß eine rahmenlose Windschutzscheibe ohne A-Säulen, die die Insassen mit Glas zu umgeben schien – für die namensgebende »totale Aussicht«.

Jahre später wurden gebogene Scheiben alltäglich, doch der Vistotal war ihr Pionier. 1936 hatte der französische Karosseriebauer Jean-Henri Labourdette die Technologie unter dem Namen »Vutotal« patentiert, Castagna erwarb die Rechte 1937. Noch im selben Jahr baute seine Werkstatt damit einen Lancia Aprilia um, nach dem Krieg folgten weitere fünf oder sechs Lancia und Fiat. Der 1100 E auf diesen Seiten ist das einzig erhaltene von nur zwei oder drei Fahrzeugen mit offener Karosserie und Vistotal-Verglasung. Das Typschild der Carrozzeria Castagna mit der Adresse Venegono Inferiore trägt die Karosserienummer 9783, geprägt 1950.

Er basierte auf einem 1100 E mit der Fahrgestellnummer 332662, Motor 373742. Im Mai 1950 kaufte ein gewisser Rinaldo Cremascoli, der in dem damals von Italien und Jugoslawien gleichermaßen beanspruchten Triest wohnte, das Auto. Über Cremascoli ist nur bekannt, dass er zusammen mit seinem Bruder den örtlichen Moto-Guzzi-Handel führte.

Fotos Dean Smith // Bearbeitung Johannes Schnettler

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