Als der Gyro-X 1967 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, wirkte er wie ein Fahrzeug aus einem Zukunftsfilm – ein Auto mit nur zwei Rädern, das durch Kreiselstabilisierung aufrecht blieb. Die Idee: maximale Effizienz bei minimaler Fläche, kombiniert mit futuristischem Design und technischer Kühnheit. Entwickelt von Alex Tremulis, dem Designer des Tucker ’48, verband der Gyro-X visionäre Fahrzeugkonzepte mit Raumfahrttechnik – und stellte damit die Grenzen des technisch Machbaren in Frage. Heute existiert nur noch ein fahrbereiter Prototyp – und der ist ebenso faszinierend wie damals.

Natürlich kann es ein zweirädriges, gyroskopisch stabilisiertes Einspurauto geben. Genau wie fliegende, magnetisch schwebende und atomgetriebene Autos. Denn in den 50er- und 60er-Jahren schien plötzlich alles möglich zu sein, was bis dahin nur in Science-Fiction-Cartoons vorkam. Dass die Zukunft damals tatsächlich futuristisch wirkte, lag an besonders kreativen Köpfen, die auch fantastische Visionen für machbar hielten. Im Fall des Gyro-X waren dies ein Automobildesigner mit einem Faible für verquere Lösungen und ein Wissenschaftler mit dem weltweit größten Wissen über den gyroskopischen Effekt von Kreiselsystemen zur Lagestabilisierung. Beide lernten sich im Kalifornien kennen, als die NASA die ersten Astronauten ins All schickte und Sharp erste Mikrowellenherde herausbrachte. Gab es jemals eine Zeit und einen Ort, an dem alles möglich schien, dann war es jetzt und hier. Schließlich eroberten die USA und die UdSSR das All und den Mond bereits mithilfe der Gyroskop-Technik.
Der Visionär mit dem Kreisel: Thomas O. Summers
Thomas O. Summers war kein gewöhnlicher Tüftler – er war ein Naturtalent in Physik, Logik, Mathematik und Mechanik. Schon als Schüler machte er seinen Pilotenschein, wenig später erfand er einen Kreisel-Fluggeschwindigkeitsmesser, der im Zweiten Weltkrieg zur Grundlage für ein Bombenzielsystem der US-Marine wurde. 1946 gründete er die Summers Gyroscope Company, die bis zu seinem Rückzug 1961 auf über 1500 Mitarbeiter anwuchs. Mehr als 30 Patente trug er in dieser Zeit ein. Sein nächstes Projekt: ein einspuriges, selbststabilisierendes Fahrzeug. Dafür gründete er 1961 die Summers Gyrocar Company in Kalifornien – mit einer klaren Überzeugung: „Vier Räder sind lächerlich, drei Räder dumm, aber zwei Räder richtig“, sagte er 1975.

Der Designer mit Raketenideen: Alex Tremulis
Alex Tremulis war einer, der sich nie mit Konventionen aufhielt. Geboren 1914, begann er seine Karriere direkt nach der Schule bei Auburn-Cord-Duesenberg – mit nur 23 Jahren wurde er dort Chefdesigner. Die berühmten Auspuffrohre des Cord 812 waren seine Handschrift. Später entwarf er für Briggs Manufacturing die stromlinienförmigen Chrysler-Konzeptwagen Thunderbolt und Newport. 1941 zur US-Luftwaffe eingezogen, arbeitete er im sogenannten „Buck-Rogers-Raum“ der Wright Field Airbase – und entwickelte dort frühe Visionen von Raumfahrzeugen, die dem Space Shuttle erstaunlich ähnelten. Besonders beeindruckt war Tremulis vom gyroskopischen Leitsystem der deutschen V2-Rakete – eine Technologie, die ihn später beim Gyro-X-Projekt ebenso inspirierte wie seine Liebe zur aerodynamischen Form.
Zwei Köpfe, eine Idee: Die Idee zum Gyro-X
1966 trafen sich zwei Visionäre mit einer gemeinsamen Mission: Thomas O. Summers suchte nach einem Weg, sein Konzept eines zweirädrigen Fahrzeugs für den Straßenverkehr umzusetzen – Alex Tremulis brachte die nötige Formensprache mit. Summers hatte zuvor für das US-Landwirtschaftsministerium fünf zweirädrige Lastenmulis gebaut, die trotz funktionierender Technik keinen Markt fanden. Also begann er, Kapital für sein eigentliches Ziel zu sammeln: ein Gyrocar für den urbanen Alltag. Tremulis war sofort Feuer und Flamme – und griff zum Zeichenstift. Zwar hatte es bereits frühere Versuche mit Gyrocars gegeben, etwa das von Graf Schilowski 1913 für Wolseley oder Louis Brennans Einschienenbahn von 1909. Doch diesen Konzepten fehlte die nötige Stabilität bei höheren Geschwindigkeiten – und die Alltagstauglichkeit. Was Summers und Tremulis planten, war ein Technologieträger mit echter Zukunftsperspektive.
Stabil auf zwei Rädern: Das Kreiselprinzip des Gyro-X

Wie schon bei seinen früheren „Mulis“ setzte Thomas O. Summers auch beim Gyro-X auf ein einziges Gyroskop zur Stabilisierung: ein 113 Kilogramm schweres Schwungrad mit 508 Millimetern Durchmesser, senkrecht hinter dem Vorderrad montiert. Das kugelförmige Gehäuse des Gyroskops war oben und unten gelagert und konnte über eine Schubstange verdreht werden – ähnlich wie im bekannten Schulversuch mit dem drehbaren Hocker und dem rotierenden Fahrradreifen. Die entstehende Kreiselkraft wurde über einen mechanisch gesteuerten Hydraulikzylinder übertragen, der das Fahrzeug im Gleichgewicht hielt. Bei Kurvenfahrten bewegte sich das Gyroskop synchron mit dem Vorderrad – das Schwungrad drehte dabei „rückwärts“, um den Lenkimpuls direkt umzusetzen. Neigungssensoren und ein präzises Steuerungssystem sorgten für die nötige Balance. Die seitlich montierten Stützräder kamen nur im Stand zum Einsatz.
Als der Gyro-X am 1. April 1967 auf der New York Auto Show enthüllt wurde, versprach die Pressemeldung Großes: „Ein aerodynamischer zweirädriger Sportwagen, der auf Highways mit einem winzigen 80-PS-Motor 125 Meilen pro Stunde schafft, nicht ins Schleudern gerät oder umkippt…“ – doch in Wahrheit konnte der Prototyp das alles (noch) nicht. Was aber funktionierte, war der Auftritt: Die schmale, schnörkellose Karosserie im Torpedostil, gestaltet von Alex Tremulis, wirkte wie ein Jet auf Rädern. Der Gitterrohrrahmen und die Aluminiumkarosserie entstanden in Handarbeit bei Troutman-Barnes in Los Angeles. Lackiert wurde das Einzelstück vom Custom-Car-Spezialisten Hershel „Junior“ Conway in tiefem Kirschrot. Der Innenraum war spartanisch – zwei Personen passten gerade so nebeneinander, wobei im Prototyp der Beifahrer das links montierte Kupplungspedal bedienen musste.
Mehr Idee als Leistung: Der Motor des Gyro-X
Ursprünglich sah das Konzept des Gyro-X vor, das Gyroskop und das Hinterrad hydraulisch anzutreiben – etwa mit einem Sechszylinder-Boxermotor aus dem VW Käfer oder dem Chevrolet Corvair. Diese Lösung hätte nicht nur ein Automatikgefühl erzeugt, sondern sogar Rekuperation ermöglicht: Beim Bremsen hätte das Schwungrad Energie aufgenommen und sie später beim Beschleunigen wieder abgegeben. In der Realität blieb es beim Prototyp jedoch bei einem einfacheren Setup. Der verbaute Motor stammte vom Mini Cooper S – ein Vierzylinder von BMC in seiner stärksten Ausführung mit 80 PS. Zwei Hydraulikpumpen versorgten das Gyroskop und das komplexe Steuersystem, doch der eigentliche Antrieb des Fahrzeugs erfolgte konventionell: über eine einfache Kette und ein Vierganggetriebe aus dem Mini. Ambitioniert war die Idee – der Motor eher pragmatisch gewählt.
Revival eines Wunders: Die aufwändige Rückkehr des Gyro-X
Ob der originale Gyro-X jemals wirklich zuverlässig funktionierte, bleibt fraglich – gerade in schnellen Kurven war die Stabilisierung problematisch. Als der US-amerikanische Sammler Lane Motor Museum den einzigen verbliebenen Prototyp übernahm, begann unter der Leitung von Techniker Hüby eine sechsjährige Restaurierung, bei der zahlreiche Komponenten komplett neu gefertigt wurden. »Den Kettenantrieb, die hintere Schwinge, das Bremssystem, die Vorderradaufhängung – vieles habe ich selbst gebaut«, berichtet Hüby. Mithilfe von Archivfotos und präzisen Berechnungen rekonstruierte er unter anderem den Hurst Airheart-Vierkolbensattel samt Halterung. Per 3D-Modellierung, CNC-Bearbeitung und moderner Messtechnik entstanden Teile wie Radträger, Hydraulikpumpenantrieb und eine neue Vorderradkonstruktion. Schwachstellen wie die lenkunfreundliche Achsgeometrie und unzureichend feste Aluminiumbauteile wurden gezielt verbessert. Das neue Kreiselmodul fertigte schließlich Agency Impianti aus Pisa – ein führender Spezialist für Yachtstabilisierung.
»Bei 3000 U/min hat es so viel Energie wie ein 900-Kilo-Auto bei 50 km/h – und es läuft nach dem Abschalten noch zwei Stunden nach«, freut sich Lane. Gemeinsam mit Stefano De Simoni entwickelte Hüby ein modernes, softwaregesteuertes Stabilisierungssystem. »Wir sind bei Version 129 der Software – wie das früher nur analog funktionieren sollte, ist mir schleierhaft.« Die Mühe wurde belohnt: 2017 feierte der Gyro-X sein Comeback beim Pebble Beach Concours d’Elegance – und gewann prompt die Dean Batchelor Trophy für das bedeutendste Fahrzeug mit Hot-Rod-Bezug.
Ist der Gyro-X ein gescheitertes Zukunftsprojekt?
Rein technisch betrachtet, kam der Gyro-X nie über den Prototypenstatus hinaus. Doch war er deshalb ein Fehlschlag? Vielmehr war er ein visionärer Entwurf – ein Experiment, das seiner Zeit voraus war. Wie so oft bei kühnen Zukunftskonzepten lagen seine Stärken nicht im fertigen Produkt, sondern in den Impulsen, die es auslöste. Technologien wie die regenerative Bremse, dynamische Stabilitätskontrolle oder aerodynamisch optimierte Formen fanden später ihren Weg in die Serienproduktion. Der Gyro-X war ein Denkmodell auf Rädern, das zeigte, wie weit man über den Tellerrand hinausblicken konnte. Vielleicht wurde er nie massentauglich – aber gescheitert ist er deshalb nicht. Nur die Zukunft, die er versprach, blieb am Ende etwas stilvoller, als sie heute tatsächlich aussieht.






Das ganze Portrait über den Gyro X lesen Sie in OCTANE #77
10 spannende Fakten über den Gyro-X
- Nur ein Prototyp wurde gebaut, der heute im Lane Motor Museum in Nashville ausgestellt ist.
- Seitliche Stützräder wurden nur beim Abstellen des Fahrzeugs genutzt – sie klappten automatisch aus.
- Die Karosserie war eine handgefertigte Aluminiumhülle, aufgebaut auf einem Gitterrohrrahmen.
- Das Lackdesign in Kirschrot stammte vom Custom-Car-Spezialisten Hershel „Junior“ Conway.
- Als Antrieb diente ein 80 PS starker Motor aus dem Mini Cooper S, kombiniert mit einem Vierganggetriebe.
- Der Gyro-X war auf eine Höchstgeschwindigkeit von 125 mph (ca. 200 km/h) ausgelegt – theoretisch.
- Die Sitzanordnung war extrem schmal, zwei Personen konnten gerade nebeneinander Platz nehmen. Der Beifahrer musste beim Prototyp das links montierte Kupplungspedal bedienen.
- Die Steuerungssoftware des heutigen restaurierten Fahrzeugs wurde über 100-mal überarbeitet.
- Die Lenkgeometrie des Originals war problematisch, da der Nachlaufwinkel fehlte – was das Geradeausfahren erschwerte.
- 2017 gewann der restaurierte Gyro-X die Dean Batchelor Trophy beim Pebble Beach Concours für das „bedeutendste Fahrzeug mit Hot-Rod-Bezug“.
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