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Vorwärts in die Zukunft

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Palm Springs ist sowohl das spirituelle als auch das wahrhaftige Zuhause des Studebaker Avanti aus den 1960er-Jahren. Preston Lerner hat in der kalifornischen Stadt eine Geschichtsstunde mit futuristischen Zügen absolviert.

Die Szenerie hat etwas Futuristisches. Fast schon kunstvoll hat Fotograf Evan Klein vor einem Haus im Stil des »Mid-Century Modern« – einer Architektur- und Designbewegung im mittleren Drittel des letzten Jahrhunderts – ein Quartett von Studebaker Avanti aus den Jahren 1962 und ’63 arrangiert. Nicht einmal 5000 Exemplare dieses Sportcoupés wurden überhaupt gebaut und der Ferienort Palm Springs in der südkalifornischen Wüste hat gerade mal 50.000 Einwohner. In dieser abgelegenen Gegend vier Avanti zusammenzubekommen, ist schon fast eine Glanzleistung. Doch während wir uns noch auf die Schulter klopfen, zwingt uns ein weiterer Avanti auf den Bürgersteig. Der kommt allerdings rein zufällig vorbei.

Der Avanti beschwört den sonnigen Optimismus und den Glauben an die Kraft des Designs herauf, von denen Südkalifornien beseelt war, bevor der Vietnamkrieg eine Neubewertung des amerikanischen Traums auslöste. Die Wiege dieses Autos stand in Palm Springs, das weltweit eines der bedeutendsten Zentren des Mid-Century Modern war. Und es sollte auch sein spirituelles Zuhause genau hier in dieser Wüste finden – in der sich kürzlich nicht weniger als 14 ortsansässige Avanti-Besitzer mit ihren Schätzchen zum alljährlichen Brunch trafen.

Viele der Elemente, die den Stil des Mid-Century Modern definieren, finden sich im Avanti wieder: neue Materialien (die Glasfaserkarosserie), das Prinzip Form folgt Funktion (die aerodynamischen Konturen) und organische Formen (keine einzige gerade Karosserielinie). Es kommt nicht von ungefähr, dass ein Avanti Teil der Ausstellung »California Design, 1930–1965: Living in a Modern Way« war, die das Los Angeles County Museum of Art (LACMA) ab Ende 2011 zeigte. Heute ist der Wagen das einzige Automobil in der Dauerausstellung des LACMA.

DVor 60 Jahren muss diese Form nicht nur modern, sondern revolutionär gewirkt haben.

Wie vielen anderen eigenständigen Herstellern (Nash, Packard, Hudson) fehlten auch Studebaker die Ressourcen der Großen Drei. Um die Firma zu retten, ernannte Studebaker 1961 einen ehemaligen Offizier des Marine- Corps namens Sherwood Egbert zum Unternehmenschef. Egbert erkannte, dass Studebaker ein Heiligenscheinauto brauchte, um das Interesse an der Marke neu zu entfachen. Da er aber weder die Zeit noch das Geld für ein komplett neues Projekt hatte, gab er etwas in Auftrag, was der langjährige Avanti-Besitzer Bob Merlis als »Ave Maria« bezeichnet – eine hastige Designarbeit, die aus einem Ackergaul ein Rennpferd machen sollte. Und wer hätte diesen Job besser erledigen können als der extravagante Raymond Loewy?

Der in Paris geborene und im Ersten Weltkrieg mit Orden dekorierte Loewy war damals der berühmteste Industriedesigner der Welt. Bekannt – wenn auch nicht ganz zu Recht – als der »Vater des Stromliniendesigns«, hatte er es auf die Titelseite des »Time«-Magazins gebracht. Seine Entwürfe reichten vom Logo für British Petroleum über die Grafik für die Air Force One bis hin zur Baldwin-Diesellokomotive mit Haigesicht und der Innenraumgestaltung der Weltraumstation Skylab. In der Automobilwelt verdiente er sich 1953 mit dem Studebaker Starliner Coupé, das seiner Zeit weit voraus war, Ruhmeshallenstatus.

Studebaker-Präsident Sherwood Egbert (links) und Designer Raymond Loewy posieren mit dem Avanti, ihrem mutigen “Baby”

Loewy heftete seine Rohentwürfe an die Wände des Hauses, zusammen mit einem Schild mit der Aufschrift »Gewicht ist der Feind«. Ebstein, Andrews und Kellogg erbrachten den Großteil der eigentlichen Arbeit und verdienen die Haupt-Lorbeeren für das Design des Avanti. Loewy hingegen war verantwortlich für die das Gesamtbild ausmachenden Elemente wie die wespentaillierten Planformen, das kühlergrilllose Frontblech und die schmucklose Gestaltung. Er hatte auch die Idee für den Namen, das italieni- sche Wort für »vorwärts«.

Beginnend mit dem 20. März arbeiteten Kellogg, Andrews und Ebstein an gemieteten Zeichenbrettern fast rund um die Uhr. Nach einer Woche konnten sie Egbert ein Miniaturmodell präsentieren und eine weitere Woche später begannen in South Bend die Arbeiten an einem maßstabsgetreuen Tonmodell. Am 27. April, 49 Tage nach dem ersten Zeichenstrich, segnete der Vorstand von Studebaker das Auto ab. Nicht nur, dass die Konzeption des Projekts kaum Zeit in Anspruch genommen hatte, auch die Umsetzung kostete kaum Geld. Loewy schrieb später, dass das meiste Geld für Flugreisen zwischen Kalifornien und Indiana ausgegeben wurde, und für »einige Kisten Champagner in den richtigen Momenten«

Die Form des Avanti muss man mögen und er ist kein Kandidat für einen Schönheitswettbewerb. Aber genau aus diesen Gründen halten seine Besit- zer felsenfest zu ihm. Und es gibt wohl kein anderes Auto auf dieser Welt, das besser geeignet wäre, ein Designportfolio zu ergänzen, das das »Steel House« von Donald Wexler, den »Lounge Chair« von Ray und Charles Eames, die »Ball Clock« von George Nelson und Lithografien von Saul Bass umfasst. »Er ist das ultimative Mid-Century-Modern-Auto«, sagt Joan Grand, der den goldenen Avanti sein Eigen nennt. »Und er gehört nach Palm Springs.«

Text: Preston Lerner; Fotos: Evan Klein; Bearbeitung: Christel Flexney

Lesen Sie in OCTANE #48 die spannende Design-Story zum Studebaker Avanti.

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