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Beim Pebble Beach Concours 2021 gewann der einzige noch existierende Mercedes-Benz 540 K »Autobahnkurier« den Preis »Best of Show«. David Burgess erzählt seine Geschichte.

Die Experten im Livestream waren ganz aus dem Häuschen: »Es ist ein Krieg der Jahrzehnte!«, proklamierten sie, als es zwei Nachkriegsautos – ein Ferrari 365 P Pininfarina Berlinetta Speciale, Baujahr 1966, und ein Maserati A6G Zagato Coupé von 1956 – in das Finale der letzten Vier beim Concours d’Elegance 2021 in Pebble Beach geschafft hatten. Das hatte es noch nie gegeben.

»Gerät die alte Garde ins Wanken?«, sinnierte Kommentator Justin Bell. Könnte es für den Maserati von Jonathan und Wendy Segal reichen, der bereits mit einem Elegance-Award ausgezeichnet wurde? Oder bewahrten die Vorkriegsmodelle, ein Bugatti Typ 57S Corsica Drop-head-Coupé von 1937 und dieser geheimnisumwitterte schwarze Mercedes-Benz, die Tradition?

Spike Anderson hätte es sich nie leisten können, in Croughton House zu wohnen – aber die heutigen Besitzer erlaubten es OCTANE freundlicherweise, den Datsun dort in Sene zu setzen.

Die Spannung erreichte ihren Höhepunkt, als Zeremonienmeister Derek Hill – Sohn des allseits vermissten Phil Hill, der so viel dazu beigetragen hat, Pebble Beach zu einer Veranstaltung von Weltrang zu machen – den goldenen Umschlag mit dem Urteil der Jury öffnete. »Und der Gewinner des Pebble Beach Concours d’Elegance 2021 ist: der Mercedes-Benz 540 K Autobahnkurier aus 1938 von Arturo und Deborah Keller!«

Es war nicht das erste Mal, dass der wunderbar schlichte, rabenschwarze Autobahnkurier der Kellers es hier ins Finale geschafft hatte. Bereits 2006 qualifizierte er sich – frisch restauriert – für den »Best of Show«- Wettbewerb, doch ging in jenem Jahr die ultimative Auszeichnung an ein Daimler Double-Six 50 Corsica Drophead Coupé von 1931. Nach den strengen Regeln des kalifornischen Concours dürfen Autos innerhalb eines Zeitraums von zehn Jahren nur dann wieder teilnehmen, wenn sie den Besitzer gewechselt haben und frisch restauriert wurden; für den Autobahnkurier, der den Kellers ihren dritten »Best of Show«-Pokal in Pebble Beach einbrachte, hatte sich das Warten also gelohnt.

Pressefoto eines 500 K Autobahnkurier. Im Gegensatz zum 540-K-Siegerauto von Pebble Beach mit ungeteitem Heckfenster und Chrom- zierleiste auf dem Heckdeckel.

Die Ursprünge dieses aerodynamisch optimierten 540 K gehen auf Anfang 1934 zurück, als Wilhelm Haspel, Leiter des Mercedes-Benz-Sonderwagenwerks in Sindelfingen, vorschlug, ein stromlinienförmiges Coupé zu bauen, um die neue W29-Plattform zu präsentieren. Der Roots-Kompressor des 5,0-Liter-Reihenachtzylinders bewirkte beim Gasgeben einen Leistungsschub, der einige Sekunden anhielt und von einem markanten Heulen begleitet wurde. Der Benzindurst des 160-PS-Motors stieg dann so stark an, dass der Flugmotorenhersteller Junkers für die 500-K-Motoren eine rotierende »Jumo«-Einspritzpumpe entwickelte, damit der Kraftstofffluss beim Einsetzen des Laders konstant blieb.

Die Vorlaufzeit war kurz, denn der 500 K sollte schon im März 1934 auf der Internationalen Automobil- und Motorradausstellung (IAMA) in Berlin vorgestellt werden. Doch Sindelfingens Chefkonstrukteur Hermann Ahrens und sein Sonderwagen-Team schafften es in zehn Wochen, Haspels Idee in die Tat umzusetzen. In den dortigen Werkstätten konnte man aus geballtem aerodynamischem Wissen schöpfen, um die optimale Form für den Wagen auszuarbeiten. Denn das Werk war ursprünglich eine von Hanns Klemm geleitete Flugzeugfabrik gewesen, bis der Versailler Vertrag Deutschland den Bau von Militärflugzeugen verboten hatte.

Ein 500 K Autobahnkurier als Star auf dem mit Büsten von Gottlieb Daimler und Carl Benz dekorierten Mercedes-Stand der IAMA 1934 in Berlin. 

Klemm, einer der bekanntesten deutschen Konstrukteure von Hochgeschwindigkeits-Militärflugzeugen, wandelte die Fabrik in eine Entwicklungs- und Produktionsstätte für neuartige Autokarosserien um, mit einer industrialisierten Möbelproduktion als Nebengeschäft. Ahrens, der im September 1933 die Nachfolge von Klemm als Chefkonstrukteur angetreten hatte, stürzte sich auf die in Sindelfingen gesammelten Erkenntnisse, die als optimale aerodynamische Form die Form einer durchbrochenen Träne ausgemacht hatten. Dieses Wissen setzte er zur Entwicklung des Autobahnkuriers ein.

Trotz seines glamourösen Namens dürfte der 540 K der Kellers kaum Zeit damit verbracht haben, über Nazi-Deutschlands neu angelegte Beton-Autobahnen zu eilen. Denn sein erster Besitzer war der spanische Augenchirurg Professor Ignacio Barraquer, der Mitte der 1930er-Jahre seine Heimat Barcelona verlassen hatte, um vor dem Spanischen Bürgerkrieg zu fliehen und in Tanger als Privatarzt zu praktizieren. Im Jahr 1938 arbeitete er einige Zeit in Deutschland, verfiel den verführerisch glatten Linien des Autobahnkuriers und gab eine Bestellung auf, obwohl das Modell laut Mercedes-Benz bereits im Februar 1937 aus dem Katalog gestrichen worden war. Wer den zweiten 540 K Autobahnkurier gekauft hat, bleibt ein Rätsel; er wurde mit ziemlicher Sicherheit im Krieg zerstört.

Es war vielleicht unausweichlich, dass der zweite Besitzer des Autobahnkuriers Arturo Keller wurde, dessen Liebe zu Mercedes-Benz aus seinem früheren Leben in Mexiko herrührt. »Autos von Mercedes-Benz waren schon seit meiner Jugend immer etwas ganz Besonderes für mich. Ich erlebte mit, wie sie mit dem 300 SL die Carrera Panamericana gewannen, und beschloss, sie zum Herzstück unserer Sammlung zu machen.«

Text David Burgess // Fotos Evan Klein // Bearbeitung Thomas Imhof

Lesen Sie in OCTANE #57, wie sich der Autobahnkurier mit einem Alfa ein duellierte.

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