Klassiker

Mit dem Rennwagen zur Schule

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Es ist wahrscheinlich das berühmteste Exemplar eines der begehrtesten Autos der Welt – und Nick Mason ist mit seinem Ferrari 250 GTO überall hingefahren, selbst zur Schule seiner Töchter. James Page erzählt, warum der GTO heute fest zur Familie gehört.

Die Motorsporthistorie des Ferrari 250 GTO ist wohlbekannt: drei aufeinanderfolgende Titel in der Herstellerwertung der Sportwagen-WM, Gesamtsiege bei der Tour de France Automobile und der Tourist Trophy, Klassensiege bei Klassikern wie Le Mans, Sebring und der Targa Florio sowie Siege bei Rennen auf britischen Flugplätzen bis hin zu italienischen Bergrennen. Für viele Menschen sind die frühen 1960er-Jahre alles, was zählt – für das, was mit den Autos in den Jahren danach passiert ist, interessieren sich nur wenige.

Doch wer sich nur auf die Rennsportkarriere eines GTO konzentriert, übersieht einen wichtigen Teil der Geschichte dieses Autos. Nehmen wir zum Beispiel den Wagen mit der Fahrgestellnummer 3589GT, den der Amerikaner Tom O’Connor der Victoria High School in Texas für den Unterricht in Automechanik spendete; derselbe Wagen wurde später von seinem nachfolgenden Besitzer Joe Kortan einige Jahre lang auf einem Anhänger an der frischen Luft stehen gelassen.

Und dann sind da noch die GTO, die auf immer und ewig mit ihren langjährigen Besitzern verbunden sind. Als da wären der Amerikaner Jim McNeil und der Brite Anthony Bamford, die ihre Autos schon seit mehr als 50 Jahren besitzen. Der britische Adelige Paul Vestey und der Amerikaner Peter Sachs erfreuen sich seit mehr als 40 Jahren an ihrem GTO, ebenso wie Nick Mason, der 1978 den hier abgebildeten Wagen mit der Fahrgestellnummer 3757GT erwarb.

Mit abgenommenem Motordeckel präsentiert sich der 3,0-Liter-V12 mit den sechs Doppel- vergasern in all seiner Pracht – die weit nach hinten versetzte Position kann fast schon als mittig bezeichnet werden.

Mason wuchs in einer automobilbegeisterten Familie auf. Sein Vater Bill war Dokumentarfilmer, der für Shell arbeitete und Motorsportfilme produzierte. Er fuhr auch Rennen mit einem Bentley 4.5 Litre und nahm den jungen Nick mit zu den Veranstaltungen. Die Vorliebe für Automobile wurde vom Vater an den Sohn weitergegeben und Nick Masons Erfolg als Schlagzeuger von Pink Floyd ermöglichte es ihm, eine wahrhaft beeindruckende Sammlung anzulegen – auch wenn es vielleicht etwas irreführend ist, sie als Sammlung zu beschreiben, denn ein bewusstes Ziel war die Kollektion nicht.

In Wirklichkeit war sie, wie es oft der Fall ist, ein eher zufälliges Produkt. Als Mason Auto um Auto hinzufügte, befand er sich in der Situation, andere weder verkaufen zu müssen noch zu wollen, und nach eigenem Bekunden ließ er sich “ein wenig hinreißen”. Dabei gab es für einen Rockstar in den 1970er-Jahren weitaus schlimmere Laster.

Obwohl er eine Reihe von Einsitzern sein Eigen nennt, hat Mason ein besonderes Faible für Autos “vom Typ Le Mans” und der GTO ist zweifelsohne der berühmteste Bewohner seiner quirligen Werkstätten. Der 3757GT, der als Neuwagen an Jacques Swaters und die Ecurie Francorchamps geliefert wurde, debütierte im Juni 1962 bei den 24 Stunden von Le Mans und wurde in den Händen von Jean Blaton und Léon Dernier Dritter der Gesamtwertung. Später im selben Jahr belegte er den dritten Platz bei der Tour de France – einer Veranstaltung, die für Mensch und Maschine eine noch größere Herausforderung darstellte als Le Mans.

Dieses Ergebnis verdankte er einem … nennen wir es mal … genialen Einfall von Jacques Swaters. Der GTO war mit einem gebrochenen Querlenker zum Rennen in Spa-Francorchamps angereist, der aber aufgrund der Parc-fermé-Vorschriften nicht ersetzt werden konnte. Alle Autos mussten vor dem Rennen drei Trainingsrunden absolvieren, was etwa zwölf Minuten dauerte. Swaters schickte seine Mechaniker auf die andere Seite der Strecke und Gérard Langlois van Ophem machte sich auf den Weg zu seinen drei Runden. Als er in Malmedy ankam, bog er in eine Seitenstraße ein, um die Reparaturen außer Sichtweite durchführen zu lassen, bevor er an die Box zurückfuhr.

Die Rennkommissare marschierten daraufhin direkt zu Swaters und reklamierten, das Auto habe nicht die geforderten drei Runden absolviert. Doch der Teamchef zeigte ihnen seine Rundentabelle, in die er völlig fiktive Zeiten für den GTO eingetragen hatte. Swaters hatte den Ruf eines hervorragenden Zeitnehmers und argumentierte, die Kommissare hätten einen Fehler gemacht. Sie kauften es ihm ab und 3757GT durfte weiterfahren.

Nach der Tour de France wurde der GTO an Guy Hansez verkauft, der ihn 1963 vor allem bei belgischen Bergrennen einsetzte. Danach ging er im Besitz des britischen Enthusiasten Peter Clarke bei allen möglichen Veranstaltungen an den Start, von Clubrennen in Croft bis hin zu den 1000 Kilometern auf dem Nürburgring und den 12 Stunden von Sebring. Als die Motorsportkarriere des GTO 1966 zu Ende ging, war er nur noch ein veralteter Rennwagen; die “Avalon Garage” in Kent kaufte ihn Clarke für 2000 britische Pfund ab.

Der GTO fand zwei weitere britische Besitzer, bevor er das Eigentum zweier Männer wurde, deren Namen jedem Kenner klassischer Ferrari ein Begriff sein dürfte. Der erste war Vic Norman, ein enger Freund von Mason, der den 250 GT “Short Wheelbase” vom 1959er Pariser Autosalon besaß und später Rosso Racing gründete. Norman wiederum verkaufte den GTO an Ronald Stern und Malcolm Clarke. Als Ersterer beschloss, den Wagen restaurieren zu lassen, kaufte er Clarke dessen Anteile ab. Stern gelangte später nicht nur in den Besitz beider Short-Wheelbase-GTO, mit denen Stirling Moss die Tourist Trophy gewonnen hatte, er besaß auch eine unvergleichliche Sammlung von Ferrari-Memorabilien.

Text: James Page // Fotos: Dean Smith // Bearbeitung: Christel Flexney

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