Klassiker

Der erste von ganz wenigen

Vorherige Story
Nächste Story

1925 bot Bugatti eine kundenfreundlichere Version seines Grand Prix-Wagens Type 35 an, genannt 35A. Mark Dixon hat sich ans Steuer des Prototypen gesetzt.

Stephen Gentry gibt sich grüblerisch. “Manchmal ist der moderne Verkehr ein bisschen zu langsam für ihn”, sinniert er. Wir stehen neben einem patinierten, blauen Bugatti Type 35A, den ich in der brüllenden Hitze des Tages gerade am Rande einer Landstraße abgestellt habe. Es ist das erste Mal, dass ich dieses Auto fahre, und mir schwirrt noch immer der Kopf davon, wie ausgeglichen dieser Bugatti sich anfühlt, wie viel Freude er macht und wie fabelhaft er sich fährt.

Dafür gibt es einen guten Grund: Er ist eines der originalsten Exemplare, die es auf der Welt noch gibt, und wurde gerade von Stephen Gentrys Firma, Gentry Restorations aus Buckinghamshire, auf das Sorgfältigste restauriert. Doch auch in anderer Hinsicht ist dieser Wagen mit der Fahrgestellnummer 4541 etwas Besonderes. Er ist einer der ersten Charge von nur neun 35A und sehr wahrscheinlich sogar das erste von insgesamt 139 gebauten Exemplaren. Er hat immer noch den Motor Nummer 1, die Vorderachse Nummer 1, die Hinterachse Nummer 2 und das Getriebe Nummer 12. Mehr Nummerngleichheit kann man bei einem alten Bugatti wohl nicht erreichen.

Der Motor ist im Wesentlichen eine abgewandelte Version des Renntriebwerks des Type 35 Grand Prix mit einfacherer, leichter zu wartender Kurbelwelle

Was er nicht hat, ist der wartungsintensive Motor des Type 35 Grand Prix. Anstelle einer fünffach kugelgelagerten Kurbelwelle mit zusätzlichen Rollenlagern – die “abrutschen” und vorzeitig verschleißen konnten – hat er eine Kurbelwelle mit nur drei Hauptlagern und einfacheren Laufringen. Der 35A ist im Grunde eine abgespeckte Version des Type-35-Rennwagens, eine erschwinglichere Alternative für den Einsatz auf der Straße und der Rennstrecke.

Das bedeutet nicht, dass er langsam ist, auch wenn der Motor nur 75 PS leistet und die Drehzahlgrenze bei 4000 Umdrehungen pro Minute liegt und nicht bei 5500 oder gar 6000 wie beim Type 35. “Man braucht ihn nicht hoch zu drehen”, erklärt Gentry. “Er hat viel Drehmoment und eine exzellente Fahrbarkeit.”

Dieser sehr frühe Wagen hat eine Magnetzündung – die durch das Armaturenbrett ragt.

Dem kann ich nur beipflichten, denn genau das war mein Eindruck, als ich für unseren Fotografen bei relativ niedriger Geschwindigkeit herumgefahren bin. Aber jetzt, da Barry Hayden mit allen Fotos zufrieden ist, bleibt Zeit, den sonnigen Nachmittag für einen Ausflug auf diesen herrlich verlassenen Landstraßen zu nutzen.

Natürlich ist Vorsicht geboten, wenn man sich ans Steuer eines äußerst wertvollen historischen Fahrzeugs begibt. Am einfachsten ist es, von der Beifahrerseite aus einzusteigen und die Füße auf das Fahrgestellrohr zu stellen – nicht auf die Schaltstange, die vor den Sitzen von einer Seite zur anderen verläuft – und unter das Lenkrad zu schlenzen. Zum Glück ist die Anordnung der Pedale konventionell: kein mittig platziertes Gaspedal! Eine Sorge weniger.

Wie bei einem alten Flugzeug gilt es auch beim Starten des Bugatti einige Prozeduren zu durchlaufen. Das Wichtigste ist die Regelung der Kraftstoffzufuhr. Zuerst öffnet man mit drei Umdrehungen an einem kleinen Hahn zu seiner Rechten den Benzinzufluss; dann – gesetzt, der Motor ist kalt – dreht man das oberste von zwei Drehventilen unter dem Armaturenbrett zu seiner Linken. Jetzt kann der Kraftstofftank mit der T-Pumpe ganz links unter Druck gesetzt werden. Wenn der Motor jedoch schon läuft, öffnet man das untere der beiden Ventile; nun übernimmt die vom Motor angetriebene Pumpe die Aufgabe. Und wenn es so heiß ist wie heute, kann die Sonne den Tank so weit erwärmen, dass er sich selbst unter Druck setzt.

Zu den wenigen Abweichungen vom Originalzustand dieses Wagens gehört ein drehmomentstarker Elektroanlasser – damals musste der Motor mit einer Handkurbel gestartet werden –, und das hat einen guten Grund: Der neue Besitzer, ein dänischer Liebhaber, setzt den Bugatti auf Langstrecken-Rallyes ein, bei denen es mühsam wäre, zum Starten des Motors immer auszusteigen.

Also den Gang rausnehmen – die außen angebrachte Handbremse hat keine Sperrvorrichtung, weshalb man das Auto im Gang lässt, wenn man es abstellt –, den Daumenschalter für die Zündung betätigen und den Knopf oben auf dem freiliegenden Anlasser drücken. Es bedarf nur eines kurzen Drucks und schon erwacht der Reihenachtzylindermotor mit einem aufregenden Knurren zum Leben.

Text: Mark Dixon // Fotos: Barry Hayden // Bearbeitung: Christel Flexney

In OCTANE #63 lest ihr mehr über den extrem raren Bugatti.

Noch mehr Geschichten über französische Klassiker finden Sie in diesen Ausgaben

Oder bestellen Sie sich OCTANE ganz bequem im Abo nach Hause

Vorherige Story
Nächste Story

Das könnte Sie auch interessieren

  • #19, Delahaye, Type 235

    Delahaye war vor dem zweiten Weltkrieg mit luxuriösen Fahrzeugen für die gehobene Mittelklasse sehr erfolgreich. Nach dem Krieg versuchte man, mit dem Delahaye Type 235,…

  • Für das diesjährige internationale Bugatti-Treffen kamen 110 Modelle von 1909 bis in die frühen 1960er-Jahre in der französischen Region Okzitanien zusammen. Der Fotograf und eingefleischte…

  • Segeln Sie mit Rennfahrerlegende Jochen Mass und OCTANE zum Grand Prix Historique 2022 nach Monaco!

  • Bei der Konzeption des EB110 standen Renneinsätze nicht im Lastenheft. Trotzdem stand mit dem EB110 LM auf den Tag genau 55 Jahre nach dem letzten…

  • Bugatti, Type 57C, Atalante, Vorkrieg, Reihen-Achtzylinder, Kompressor, #37

    João de Lacerda kaufte diesen Bugatti Type 57 im Jahre 1975, restaurierte ihn penibel, und spulte in zwei Jahrzehnten bei Trips durch Skandinavien, Frankreich, Italien…

  • Bugatti Bébé neben seinem Vorbild Bugatti Type 35

    Unglaublich, aber wahr: Vom Bugatti Type 35 gab es 1927 eine Variante in 1:2 - ein Spielzeug für Kinder. Und zwar mit einem 12-Volt-Elektromotor. Bis…

4 Shares