Renault 4 fahrend
Klassiker

Darum kann der R4 auch als Klassiker überzeugen

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OCTANE#02

 

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Text Keith Adams // Fotos Stuart Collins/Renault Classic Archive

IN FRANKREICHS LÄNDLICHEN GEGENDEN SIEHT MAN DAS ROBUSTE GEFÄHRT, DAS ÜBER ACHT MILLIONEN AUTOFAHRER VON SICH ZU ÜBERZEUGEN WUSSTE, AUCH HEUTE IMMER NOCH SEHR OFT

Das neu zu kreierende Auto Renaults, das in die Aufbruchszeit in den Sechzigern hineingeboren wurde, sollte wenig kosten. Vor allem sollte es robust und vielseitiger einzusetzen sein als der Citroën 2CV. Ingenieure und Designer gaben jenem Resultat – dem Renault 4 – den Spitznamen „350“, ein Hinweis auf den beabsichtigten Verkaufspreis von 350.000 Franc (rund 4000 Mark). Eine Besonderheit des R4 war die „fünfte Tür“, die Heckklappe mit Fenster, die seit seiner Erschaffung  bei praktisch jedem Kleinwagen mit Vorderradantrieb Standard ist.  Angepriesen als „Wagen aus der Welt von morgen“, entwickelte sich das charmante Gefährt zum Kultobjekt.

Renault 4 mit einem Model bei Werbeaufnahmen
Die Mobilisierung der Massen war das erklärte Ziel der Autohersteller in den 50er und 60er Jahren. Jede Menge kleine Fahrzeuge überschwemmten förmlich den Markt. Mit dabei: der Renault 4.

Für die Automobilindustrie waren die späten 1950er Jahre eine spannende Zeit. Unterschiedliche Konzepte wurden verfolgt, jeder große Hersteller hatte eine eigene Vorstellung von Zeitgeist und wirtschaftlichen Möglichkeiten. In einem Punkt waren sich alle einig: Die Jahre nach dem Krieg strotzten vor Optimismus, die Nachfrage nach Autos schien unersättlich. Fast jeder Hersteller lieferte Großserienfahrzeuge. Gleichzeitig galt es, an Pionierleistungen aus der Vorkriegsära – VW Käfer und Citroën 2CV – anzuknüpfen. Von 1957 bis 1962 kam eine wahre Flut von Kleinwagen auf den Markt: Fiat 500, Simca 1000, NSU Prinz 4, der Mini und Renault 4 rollten in Europa von den Fließbändern. Das erklärte Ziel seitens der Hersteller: Mobilisierung der Massen. Es war eine Aufbruchszeit in jeder Hinsicht.

DAMIT ER VIELSEITIG, ABER AUCH UNVERWÜSTLICH UND ROBUST SEIN WÜRDE, BEKAM DER R4 EINZELRADAUFHÄNGUNG UND DREHSTABFEDERUNG

In mehr als einer Hinsicht ist der R4 ein Verwandter des 2CV. Der hatte Vorderradantrieb und – trotz Niedrigpreis – eine ziemlich ausgeklügelte Aufhängung. Entwickelt wurde die Ente, um der Landbevölkerung – den Bauern der Provinz – ein kostengünstiges Mobil zu bescheren. Und sie wurde Kult für Millionen in aller Welt. Darauf musste Renault reagieren. Pierre Dreyfus, gerade zum Renault-Präsidenten ernannt, wollte eine Art „Blue-Jeans-Auto“. Das sollte wenig kosten, vor allem sollte es pfiffiger und vielseitiger einzusetzen sein als der Citroën 2CV.

Lenkrad des Renault 4L
Französischer Charme à la 1968: Das wunderschön filigrane Lenkrad des Renault 4L gibt dem Fahrer mehr als genug Feedback.

Außerdem sollte es nicht nur funktional, sondern auch stylisch sein. Obwohl die Entwicklung des R4 unter dem Namen “Projekt 112” lief, bevorzugten die Ingenieure und Designer den Spitznamen “350”, ein Hinweis auf den beabsichtigten Verkaufspreis von 350.000 Franc, etwa 4000 Mark – und kein Cent mehr. Um diesen Preis halten zu können, musste der R4 vom Renault Dauphine den 747-ccm-Vierzylindermotor und das Getriebe (längs eingebaut, mit vorn montiertem Achsenantrieb) behalten. Eine Besonderheit war die “fünfte Tür”, die Heckklappe mit Fenster, die seit dem R4 bei praktisch jedem Kleinwagen mit Vorderantrieb Standard ist. Damit er vielseitig, aber auch unverwüstlich und robust sein würde, bekam der R4 Einzelradaufhängung und Drehstabfederung.

MON DIEU! UNGLAUBLICHE ZWEIHUNDERT FAHRZEUGE STELLTE RENAULT DEN MESSEBESUCHERN 1961 FÜR TESTFAHRTEN ZUR VERFÜGUNG

Für Furore sorgte Renault gleich bei der Vorstellung des R4 im Jahr 1961 im Grand Palais von Paris. Die Firma sprengte fast den Rahmen der Veranstaltung, indem sie zweihundert Fahrzeuge mitbrachte, die für Messebesucher zur sofortigen Testfahrt bereitstanden. Die Aktion war ein riesiger Erfolg. An die 60.000 Pariser nahmen das Angebot wahr, viele kauften sich daraufhin einen. Auch heute versteht man, schon nach einer kurzen Spritztour, weshalb der R4 schon damals als „Wagen aus der Welt von morgen“ angepriesen wurde.

Das Styling von Yves Georges ist minimalistisch, viele Details sind raffiniert. Features wie die Verzierung des Kühlergrills und der Renault-Rhombus im Art-Deco-Stil fallen sofort auf, genauso das seitlich vor dem linken Hinterrad endende abgeknickte Auspuffrohr. Am meisten aber beeindruckt die intelligente Lösung für das Fahrzeuggehäuse. Mit einer Länge von 3,65 Metern gilt der Renault 4 heutzutage als kleines Auto. Trotzdem hat er fünf Türen, die sich weit öffnen lassen, und im Innenraum ist Platz für fünf Personen – vorausgesetzt, sie mögen sich.

ALS WIR LOSFAHREN, WANDELT SICH DER BLECHERNE SOUND ZUR WARMHERZIGEN PERSÖNLICHKEIT

Im Gegensatz zu vielen Kleinwagen aus dieser Zeit ist die Raumaufteilung hervorragend – keine versetzten Pedale –  und das Interieur ist zwar einfach, die Verarbeitung aber gut und stilvoll funktional. Der aus dem Armaturenbrett herausragende Schalthebel ist zwar ein Kuriosum, aber das Schaltmuster ist das übliche, und die Schaltwechsel sind präzise. Schulter an Schulter neben dem Lieblingspassagier zu sitzen, erhöht schon mal den Spaß. Als wir losfahren, wandelt sich der blecherne Sound des eifrig werkelnden Motörchens zur warmherzigen, unverwüstlichen Persönlichkeit.

Eine wirklich gute Leistung, die unser Renault 4L, Baujahr 1968 mit 845-ccm-Motor, für ganze 32 PS da auffährt. Bei unserer Testfahrt fünfzig Jahre nach dem Launch muss der 4L alles geben, um im modernen Verkehr mitzuhalten. Aber schon bald nehmen wir Kurs auf die hügelige Landschaft außerhalb von St. Pierre des Corps, und hier ist der Renault ganz in seinem Element. Mit dem kerzengeraden Verlauf und wunderbarem Belag könnten die Départementstraßen herrlich sein; tatsächlich sind sie aber fies gewölbt. Solche Unzulänglichkeiten ignoriert der 4L achse(l)zuckend mit einer gallischen Nonchalance, die einen wirklich verblüfft.  Außerdem zeigt sich im Folgenden: Die Bodenhaftung ist gut, und das wunderschön filigrane Lenkrad gibt einem mehr als genug Feedback. Grip ohne Ende – très magnifique!

RENAULTS VERKAUFSSCHLAGER WAR EIN „UNIVERSELLES AUTO“: LETZTLICH WURDE DER RENAULT 4 IN 28 LÄNDERN MONTIERT. VON DEN INSGESAMT ACHT MILLIONEN PRODUZIERTEN AUTOS WURDEN SECHZIG PROZENT AUSSERHALB FRANKREICHS GEBAUT.

Erstaunlich erfolgreich war das Familien-Auto auch in Wettkämpfen, in denen seine Robustheit, Zuverlässigkeit und die Radaufhängung vorteilhafter waren als schiere Geschwindigkeit. Bei der Rallye Paris-Dakar landete Renault 1979 hinter Range Rover auf Platz 2, im folgenden Jahr gegen viel schnellere Konkurrenz auf Platz 3. Zweifelsfrei war und ist der Renault 4 etwas ganz Besonderes. All das wird uns mehr und minder klar, während wir weiter durch das Loire-Tal zuckeln.

Der Renault 4 ist anscheinend nicht aufzuhalten. Es kommt einem vor, als wolle er immer weiter und weiter fahren, solange jedenfalls, bis der letzte Tropfen Benzin verbraucht ist. Folglich sieht man ihn in Frankreichs ländlichen Gegenden auch heute immer noch sehr oft. Der Renault 4 mag konzipiert worden sein, um junge französische Familien in den Jahren wirtschaftlicher Blüte zu motorisieren – weshalb vieles an ihm simpel ist. Zugleich ist er aber mehr als die Summe seiner Teile. Über acht Millionen Autofahrer erlagen seinem Charme während der 31 Jahre, in denen er gebaut wurde. Seither haben sich noch mehr Autofahrer auf ihn eingelassen – auch wir.


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