Klassiker

Alles rot!

Vorherige Story
Nächste Story

Enzo Ferrari war kein großer Rennfahrer, kein genialer Motorenmann, und seine Fahrer waren ein notwendiges Übel für ihn. Aber er entwickelte sich zu einem großartigen Teamchef, der nebenbei einige Auto-Ikonen des 20. Jahrhunderts schuf.

Können wir uns heute Enzo Ferrari noch unvoreingenommen nähern? Zu groß ist der Mythos, zu schwer tragen die vielen Geschichten: seine Fahrzeuge, seine Siege und Niederlagen, seine Rennfahrer. Sein Name und seine Geschöpfe werden von vielen Ferraristi – schon diese Gemeinschaft erinnert an den Konvent des Klosters vom heiligen Zwölfzylinder – verehrt und bewundert. Das ist in dieser Form einzigartig – oder können wir uns derart leidenschaftliche Mercedisti vorstellen? Hon- disti? Corvettisti?

Es gibt – neben Porsche – keinen anderen Autohersteller, über den derart viel geschrieben wurde, derart viele Filme gedreht und Radiosendungen verfasst wurden. Allein in meiner Bibliothek lagern ein paar hundert Ferrari-Bücher, dabei bin ich kein Hardcore-Ferraristo – er fasziniert mich, natürlich. Aber die persönlichen Treffen mit Enzo Ferrari waren kühl und unpersönlich. Sie wurden von seinen Vertrauten inszeniert, routiniert abgewickelt. Dennoch: Enzo Ferrari strahlte etwas Eigenartiges aus: totale Hingabe an sein Werk, totale Kontrolle über sein Werk.

Ein Zwölfzylinder muss es sein – wenn es nach Enzo Ferrari geht.

Er war der menschgewordene Mythos, ein Monolith in einer an Persönlichkeiten nicht armen Industrie – also ist es nun zum 75. Geburtstag der Ferrari S.p.A. Zeit, ein paar dieser Mythen zu hinterfragen. Und dabei kristallisiert sich heraus, dass Enzo Ferrari weder ein herausragender Rennfahrer noch ein hervorragender Ingenieur war – aber er entwickelte sich mit viel Trial and Error zu einem großartigen Teamchef, der vor dem Zweiten Weltkrieg mit den Rennwagen von Alfa Romeo reichlich Siege einfuhr. Der potente Sponsoren fand, Rennfahrer protegierte und den Ruhm der Marke beeindruckend förderte.

Die in Modena beheimatete Scuderia entwickelte sich dank der Organisationskünste und strategischen Fähigkeiten von Enzo Ferrari, die besten Fahrer an sich zu binden und finanzstarke Sponsoren zu finden, rasch zum semi-offiziellen Werksteam von Alfa Romeo. Von 1930 an erhielt die Scuderia Sportwagen wie den großartigen 6C 1750 und auch den 8C 2300, mit dem im Frühjahr 1932 beim 24-Stunden-Rennen in Spa-Francorchamps zum ersten Mal mit dem aufgemalten »Cavallino Rampante« ein Doppelsieg gelang.

Schön sieht der 375 MM nicht mehr aus. Aber wer würde schon die Patina eines Autos zerstören wollen, das einst von Formel-1-Weltmeister Phil Hill pilotiert wurde?

Von 1934 an überließ Alfa Romeo der Scuderia auch die GP-Fahrzeuge vom Typ P3, die jedoch mit dem Aufkommen der Silberpfeile von Mercedes-Benz und der Auto Union immer seltener siegen konnten. Dennoch blieb Enzo Ferrari Alfa Romeo treu und war bis 1939 an der Entwicklung der legen- dären Alfetta (Typ 158) beteiligt, die nach dem Krieg den Grand-Prix-Sport dominieren sollte. Dann führte ein Disput mit Ugo Gobbato, dem seit 1933 amtierenden Direktor von Alfa Romeo, zu seiner Entlassung. Er wurde zwar mit viel Geld abgefunden, durfte aber vier Jahre lang nicht den Namen Scuderia Ferrari benutzen.

Also gründete Ferrari die Firma Auto Avio Costruzioni (AAC), die sich auf die Auftragsproduktion von kleinen Vierzylinder-Flugzeugmotoren spezialisierte. Doch im Dezember 1939 baten ihn der junge Alberto Ascari und sein wohlhabender Freund Marchese Lotario Rangoni Machiavelli di Modena – was für ein großartiger Name –, für die Mille Miglia einen Wagen zu bauen. Da der Name Ferrari in diesem Zusammenhang nicht auftauchen durfte, erhielt der Wagen die Bezeichnung AAC 815, was darauf hinwies, dass er einen Achtzylindermotor mit 1,5 Litern Hubraum besaß und aus zwei hintereinander montierten Fiat-508C-Balilla-Vierzylindern mit modifizierten Zylinderköpfen bestand.

Nick Mason und sein GTO sind Veteranen zahlreicher Goodwood Revival. Hier geht er im Wechsel mit Martin Brundle auf die Strecke.

Acht Jahre musste Enzo Ferrari warten, bevor er – nach Kriegsende – endlich wieder Scuderia-Rennwagen bauen konnte. Er hatte die Zeit gut genutzt und trat 1947 mit einem faszinierenden Motor an: dem von Gioacchino Colombo konzipierten 1,5-Liter-V12. Warum ein Zwölfzylinder? Auch hier arbeitete Ferrari wie so oft an einem Mythos: »Ich hatte in den 30er-Jahren einen Packard mit einem wunderbar laufenden Zwölfzylinder gesehen und gehört«, soll er später gesagt haben. Seitdem war er dem V12-Prinzip verfallen.

Am 11. Mai 1947 erschien in Piacenza mit dem 125 der erste gebaute Ferrari auf einer Rennstrecke. Zwar blieb der Wagen in Führung liegend mit einem Schaden an der Ölpumpe stehen, doch ab dem zweiten Rennen in Rom folgten unzählige Siege. Nach dem Ausfall in Piacenza gewann Franco Cortese am 25. Mai 1947 den Gran Prix de Roma. Schnell wurde klar, dass die 100 PS nicht genügten – Rennfahrer verlangen immer nach mehr Leistung. Da Enzo Ferrari über viele Jahrzehnte hinweg die Typbezeichnung nach der Hubraumgröße eines Zylinders benannte, hatte der Typ 125 also 125 ccm Hubraum pro Zylinder, was mit zwölf multipliziert 1,5 Liter ergab.

Rasch folgte der Typ 166 mit zwei Litern Hubraum, der die Zeit der großen Siege einläutete: Von 1948 bis 1953 gewann Ferrari sechsmal die Mille Miglia; 1949 siegte der spätere US-Importeur Luigi Chinetti mit einer 166 MM Barchetta bei den 24 Stunden von Le Mans, kurz darauf sollte er bei den 24 Stunden von Spa-Francorchamps ebenfalls als Gewinner ins Ziel kommen.

Text Jürgen Lewandowski  // Fotos Paul Harmer, Ferrari S.p.A./Zincografica Modenese, Drew Gibson, Martyn Goddard, James Lipman, Steve Havelock, John Colley, RM Auctions, Webb Bland, Matthew Howell

Lesen Sie in OCTANE #58, wie Ferrari in 75 Jahren zur Supersportwagenmarke wurde.

Noch mehr Stories über italienische Klassiker finden Sie in diesen Ausgaben

Oder bestellen Sie sich OCTANE ganz bequem im Abo nach Hause

Vorherige Story
Nächste Story
0 Shares